Es war ein traumhafter, herrlicher Sonnentag. Laura hatte sich schon das ganze Jahr danach gesehnt, endlich mal wieder in die Berge zu fahren, zu wandern. Ein kleines bisschen mit der Natur zu verschmelzen.
Nachdem sie den Anblick vom Gipfel auf die umliegende Bergwelt genossen hatte und sich wieder an den Abstieg machte, bleiben ihre Blicke an einem der vielen umstehenden Bäume hängen.
"Wie friedlich und ruhig es hier ist unter den Bäumen," dachte sie, und während ihr Blick immer noch an dem Baum haftete, fragte sie sich:
"Was dieser Baum wohl alles zu erzählen hätte?"
In diesem Moment schreckte sie auf, denn eine Stimme sagte: "Ich würde gerne mit Dir kommen und nicht für immer hier stehen müssen." Es war ohne Zweifel der Baum, der sprach.
1. Oh, das Gefühl kenne ich
'Wieso?' fragte Laura. 'Es ist doch wunderschön hier. Du hast herrlichste Luft um dich, die Sonne scheint dir aufs Haupt, und es scheint hier nur Frieden zu geben.'
'Zu viel Sonne ist gar nicht so toll. Die Hitze steigt in die Wipfel und man kann die Wärme gar nicht mehr so genießen. Außerdem gibt es hier ja bei Weitem nicht nur sonnige schöne Tage. Was glaubst Du, wie ich mich fühle, wenn der Sturm geht wie neulich? Man hat ständig Angst vor der Entwurzelung.'
2. Man nennt es Demokratie
'Oh, das Gefühl kenne ich,' sagte Laura kess. 'Auf einmal ist dein ganzes Leben, deine ganze Lebensfähigkeit ins Wanken geraten, stark anzuzweifeln. Deine Pläne, deine Träume, der Weg, den du eingeschlagen hast, die Prinzipien, auf die du dich stütztest, die Werte, an die du geglaubt hast, alles scheint zu zerbröckeln. Der Boden, auf dem du standest, bricht weg. Ohnmacht ist dann das Gefühl - schrecklich. Aber es kommt immer wieder Sonne, sage ich mir immer. Und das ist doch herrlich. Die Sonne, das nennt man bei uns Menschen im übertragenen Sinne oft auch das Glück. Man könnte platzen. Aber ich weiß auch, was du meinst. Wenn es zu viel wird, oder zu lang, stumpft man ab und weiß es auch nicht mehr zu schätzen. Ab einem gewissen Zeitpunkt tut es einem dann auch schon nicht mehr gut.'
'Ja, ich könnte davon verdorren oder verbrennen. In einer gesunden Menge blühe ich natürlich total auf und lechze nach mehr. Vorm Wind nun schützen uns Gott sei Dank die Bäume um uns herum - gerade hier auf dem Gipfel ist es wichtig, dass die breite Masse sich den winden entgegensetzt. Die, die außen stehen, kriegen natürlich am meisten ab, aber sind auch meistens die stärker gebauten. Eigentlich, so denke ich mir meistens, kriegt jeder Baum meist so viel Wind ab, wie er verträgt.'
'Bei uns Menschen ist das genauso,' bemerkte Laura eifrig. 'Wir sind in der Menge stärker. Man nennt das Demokratie, und um irgendwelchen Unruhen im menschlichen Miteinander entgegenzuwirken, wollten sich immer mehrere Menschen zusammenschließen und engagieren. Und natürlich kriegen auch dort immer die am meisten ab, die am deutlichsten aufbegehren, am vorderster Front stehen. Eure Gemeinschaft ist schon toll. Wir sollten auch viel mehr zueinander stehen, füreinander einstehen. Auf das Schicksal des einzelnen bezogen, sagte meine Oma auch immer: Keiner kriegt mehr, als er tragen kann. Und ich denke, dass vielleicht das aber auch nur möglich ist, weil noch jemand da ist, der einen tragen helfen kann.'
'Es gibt hier im Wald viele Situationen, wo man nicht mehr sicher ist, dass einem der Halt der anderen ausreichend Hilfe ist. Manchmal ist doch jeder auf sich angewiesen. Sei es bei Feuer, sei es bei Wassermassen - man fragt sich, wie man da jemals wieder raus kommt - und ob überhaupt.'
3. Am Ende des Tunnels ist immer ein Licht
'Das ist mir auch vertraut. Manche Probleme, eigene oder auch gesellschaftliche, scheinen einem die Luft zum atmen zu nehmen, schwemmen rundherum den festen Grund, auf dem man alles aufgebaut hat, weg. Man ist völlig haltlos, weiß nicht, wie es ausgeht. Es ist, als gehe man durch einen unendlich anmutenden Tunnel. Um einen herum ist Dunkelheit, kein Ausweg links oder rechts, man weiß nicht, wie es weitergeht, wann das Ende des Tunnels erreicht ist. Manchmal weiß man noch nicht einmal, wie man eigentlich dort rein geraten ist. Aber am Ende des Tunnels ist immer Licht.'
'Aber sei ehrlich. Nicht jeder kommt durch,' sagte der Baum. 'Ich weiß nicht, was mich umbringen wird: Ist es die Sonne, der Regen, Umweltgifte, werde ich morschen oder verfaulen, werden von einem Schmarotzer alle Lebensgeister aufgesogen, werde ich entwurzelt oder mit der Axt zerkleinert, befallen mich Krankheiten oder sterbe ich eines natürlichen Todes. Manchmal geht es für bestimmten von uns einfach nicht gut aus. Vielleicht ende ich ja auch als Weihnachtsbaum - das wäre vielleicht sogar der schönste Tod.'
'Du hast Recht. Es ist wie mit der Intensität des Sturmes, von der du sprachst. Manchen weht es ständig um die Ohren. Sie sind immensen Stürmen des Lebens ausgesetzt, scheinen vom Pech verfolgt und manche erwischt das schlimmste überhaupt - und andere wiederum scheinen jede Böe zu umschiffen. Aber im Prinzip sollte man doch auch sehen, was man an schönen Dingen erlebt hat und alles genießen, so lange es noch geht.'
'Ja ich bin ja auch zufrieden,' seufzte der Baum. 'Aber es passiert hier so wenig. Ich kenne meine Umgebung in und auswendig. Einzige Abwechslung ist das Wetter, der Wechsel der Jahreszeiten, hier mal ein Tier, dort mal ein paar Menschen. Alles was ich sonst von der Welt weiß, erzählt der Wind.'
'Aber schau, du hast wenigstens immer die selben Bäume um dich. Ihr gehört zusammen, bei uns ist ständige Fluktuation - meine Familie musste ich zurücklassen, viele Freunde, viele, die ich nie wiedersehe.'
4. Was meinst du, weswegen die Menschen hierher kommen?
'Dafür lernst du auch viele neue Menschen kennen - und du musst dich nur begrenzt mit Menschen auseinandersetzen, die dir nicht passen. Ich dagegen stehe nicht nur neben meinen besten Freunden. - Und du siehst was von der Welt. Ich kann mir das Meer z.B. nur vom Hörensagen vorstellen.'
'Okay. Vielleicht wäre für dich ein Platz im Garten oder Stadtpark interessanter. Du siehst lauter Menschen ...'
'Ach ja ...'
'Nur: Deinen Standort gegen die Luft voller Autoabgase würde ich nicht tauschen wollen. Und von den Menschen hast du auch nicht mehr viel: Die wenigsten gehen noch zu Fuß, haben Zeit, immer mehr bewegen sich auf zwei oder mehr Rädern: Mit Tretrollern, Inlinern, Fahrrad sowieso, Auto, Bus, Straßenbahn, etc. Es passiert viel, es gibt viel zu sehen. Aber du wirst dich nach dieser Ruhe und dem langsameren Ticken der Uhr hier zurücksehnen. Was meinst du, weswegen die Menschen hierher kommen? Sie wollen einfach mal abschalten, durchatmen, zur Ruhe kommen. Die Zeit stillstehen lassen. Die Entwicklungen da draußen gehen immer rasanter, das Bedürfnis nach Muße und Abstand wird sicherlich noch wachsen.'
Nach einer kurzen Pause fragte der Baum: 'Bist du sicher, dass die Menschen in ein paar Jahrzehnten auch noch kommen werden? Meinst du, dieser Ort wird tatsächlich ein bisschen Ruhepol gegen die Zeitstürme sein können?'
'Ich hoffe es - ich denke schon. Aber das, lieber Baum, wirst du wohl eher erleben als ich. Was du wohl dem Mensch der Zukunft zu erzählen hast ...' sagte Laura verstummend, und machte sich, dem Baum noch einmal zuwinkend, an den Abstieg. So also könnte es sein, wenn Bäume Seelen hätten, dachte sie für sich - und plötzlich wurde ihr bewusst, wie wohlig ihr die sanften Lüfte um den Kopf strichen.
Datum 27.06.2004 / Text Sigrid Steglich / Photo Thomas Steglich / Artikel als PDF ( KB) / tweet Artikel / feedback Formular.